Der Fortschritt rennt uns davon – lassen wir ihn ziehen

Fortschritt! Innovation! Change! Große Worte – kleine Atempause. Was, wenn der nächste Schritt nicht mehr geradeaus geht? Wir alle wollen ein besseres Leben, aber wie bekommen wir es wirklich? Hier wird der gute alte Fortschritt zum TÜV geschickt. Spoiler: Die Plakette bekommt er nicht.

Wir Menschen sind Geh-Wesen.

Immer wollen wir irgendwohin, wo es besser ist. Den Weg dorthin teilen wir in „Schritte“ ein. Da bin ich, dort ist mein Ziel. Und auf geht’s! Ich bin unterwegs! Anfangs ein gutes, oft berauschendes Gefühl. Doch ein paar Schritte weiter meldet sich diese Kinderstimme: „Wann sind wir da-aaa?!“ – „Bald“, antworte ich. – „Und wann ist bald?!“ – „Sei still.“ ——————— „Sind wir jetzt da?“ – „Nein, noch nicht.“ —– „Wann dann?“ – „Zeitnah.“

Spätestens an diesem Punkt ist mein „Fort-Schritt“ gestört. Wie weiter?

Eine Tasse Tee später dämmert mir: Dieser Einstieg stimmt vielleicht gar nicht. Es heißt ja Fort-Schritt. Nicht Hin-Schritt. Offenbar ist das „Fort-von-hier“ ein wichtigeres Motiv als das „Hin-zu-was“. Gibt es Fortschritt, weil wir es hier und jetzt nicht aushalten? Alles nur Unruhe, nur sinnloses Getriebensein? Oder alles aus der Not geboren, aus sklavischen Zuständen, aus der Sehnsucht nach dem irgendwie beschaffenen gelobten Land?

Kleiner Bedeutungs-Check in unserer Schwestersprache: Progress, abstammend vom lateinischen pro-gredi heißt im Kern vorwärts-schreiten. Kleine Verschiebung also: Nicht „fort!“, sondern „vorwärts!“. Aber wo genau ist „vorne“ für das Vorwärts? Offenbar gilt beim Progress wie beim Fortschritt: Hauptsache, weg von hier.

Seit der Aufklärung hat sich das Fortschritts-Meme immer stärker mit heilsversprechender Bedeutung aufgeladen, bis es zum persönlichen und gesellschaftlichen Marschbefehl wurde: „Vorwärts, avanti, dawai! Wer stehen bleibt, fällt schon zurück!“

Nicht mehr vorne, sondern im Schlepptau

Zum Fortschritt gesellt sich noch, spürbar seit Mitte des 20. Jahrhunderts, die „Beschleunigung“. Seither mussten wir uns nicht nur ständig vorwärtsbewegen, sondern auch noch das Tempo erhöhen. Jetzt, seit Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmen die Dinge um uns herum das Tempo. Wir sind nicht mehr die Akteure des Fortschritts, sondern Getriebene, geknutet von immer invasiveren Technologien. „Vorwärts, avanti, dawai! Sonst verpasst und verlierst Du!“

All das geschieht in unserer Einbildung auf einer imaginären Linie: Hier geht’s nach vorne! Geh „zielstrebig“ immer gerade aus!

Doch was ist da vorne eigentlich? Ist da wirklich was?

Man möchte fragen: „Ja wo laufen se denn? Wo laufen se denn hin?“

Dann quäkt schon wieder die Kinderstimme: „Wann sind wir endlich da-aa?“

In dem Moment,

wo unser Fort-Schritt gestört ist, wo uns dämmert, dass wir uns verrannt haben,

wo wir ahnen, dass wir ganz woanders ankommen werden als geplant,

oder gar im Kreis gegangen sind

oder die ganze Tortur für die Katz war,

immer dann,

… immer dann äußert einer ganz sicher diesen Spruch:
„Der Weg ist das Ziel.“

ob im Team oder im Freundeskreis oder in unserem inneren Theater, immer dann äußert einer ganz sicher diesen Spruch:

„Der Weg ist das Ziel.“

Und, geben wir’s zu: Dieser Spruch hat in diesem Moment nichts mehr von seiner Zen-Erhabenheit. Dieser Spruch ist – in diesem Moment – so tröstend wie ein angeschissenes Stück Klopapier. Genauso gut kann ich sagen:

Sorry, ich habe mich verirrt.

Fortschritt als Illusion

Das Lotos-Sutra, die Hauptschrift des Mahayana-Buddhismus, widmet dem „Fortschritt“ ein ganzes Kapitel, es heißt: Das Gleichnis von der Zauberstadt. Darin erzählt es von einer Gruppe Menschen, die voller Sehnsucht und Bedürftigkeit in einer unwirtlichen Gegend umherziehen, hin zu einem „kostbaren Ort“. Sie jammern, sie stöhnen, sie wollen zurück. Daraufhin lässt Ihr Anführer (der Buddha) in absehbarer Entfernung eine magische Stadt entstehen, einen sicheren, attraktiven Ort voller Genüsse. Er sagt: „Ihr seid am Ziel angekommen.“ Doch als die Menschen sich erholt hatten, lässt er die magische Stadt wieder verschwinden und sagt: „Sorry, ihr seid noch nicht am Ziel.“

Von der Flucht zur Transformation

So wird im Lotos-Sutra der illusionäre Charakter des Fortschritts verdeutlicht. Diese Schrift entstand mehr als 1500 Jahre vor dem fortschrittsbesessenen Zeitalter der Aufklärung und Moderne. Schon damals war im Buddhismus klar, dass die Fortschrittsdynamik ihre Tücken hat: Man kann in der äußeren Welt endlos voranschreiten – es wird nichts bringen. Stattdessen verweist er auf eine andere Bewegung: Statt von „außen“-nach-„noch weiter draußen“ geht es erst mal nach innen. Von äußerer Abhängigkeit zu innerer Freiheit.

Das bessere Leben ist ein anderes Verb

Sie „schreiten nicht vorwärts“, sie TANZEN.

So weit, so abgedroschen. Was da drinnen soll uns diese Freiheit bescheren? Und was können wir uns drum kaufen? Das Lotos-Sutra gibt darauf, acht Kapitel weiter, eine erstaunliche Antwort. Dort berät man sich, wer denn in der Zukunft, weit nach dem Ableben des Buddha, für die Verbreitung seiner Lehren sorgen würde. Ein paar alte Hasen melden sich, die Experten, die Erfahrenen, die Wissensträger – doch sie tun das mit Zögern, Einschränkungen, Bedenken. So wie auf jedem Strategie-Meeting erlebbar, wenn es ans Eingemachte geht. Da sagt der Buddha: „Lasst ab Männer! Ich brauche Euch nicht!“ Daraufhin öffnet sich die Erde und eine riesige Menge junger Bodhisattvas tanzt hervor. Wohlgemerkt: Sie „schreiten nicht vorwärts“, sie TANZEN.

Der Buddha verweist auf die tanzende Menge und sagt: „Diese Leute hier haben mich seit Ewigkeiten begleitet und übernehmen den Job! Sie sichern unsere Zukunft.“

Diese Szene erzählt uns Folgendes:

  • Die Zukunft will nicht linear beschritten, sie will ertanzt werden.
  • Das Leben ist ständige Erneuerung, wir müssen es nur aus unserer Erde lassen.
  • Es gibt keinen Führer oder Vortänzer.
  • Erneuerung ist ein Wechselspiel von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, Tanz eben.
  • Jede tanzende Person verändert den Tanz und wird durch den Tanz verändert.
  • Tanz verleiht jedem Chaos augenblicklich Struktur, vorausgesetzt, man hört die Musik.
  • Es gibt kein „fort“ und kein „vorne“, es bewegt sich genau hier in ein besseres Leben hinein.

Gut möglich, sagt das Lotos-Sutra, dass wir in unserem tiefsten Wesen gar keine „Gehenden“ sind, sondern „Tanzende“. Gut möglich, sagt das Lotos-Sutra, dass unser Traum von einem besseren Leben keine Wanderung ist, sondern ein rhythmisches Aufblühen. Deshalb ist die Lotosblüte das Hauptsymbol dieser Lehre.

Let’s do better in Dancing

Was wäre, wenn unsere Wirtschaft, unsere Unternehmen das Tanzen lernten?
Sie müssen es längst, weil kaum mehr etwas in linearem Sinne steuerbar ist und jeder Business-Plan beim Erstellen schon Makulatur. Sie tanzen schon längst, ohne es zu wissen. Deshalb sieht es so hilflos, freudlos, einfallslos aus wie auf einer Wahlparty der CDU. Da wäre in Sachen Geschmeidigkeit, Körperwahrnehmung und Bewegungsvielfalt noch viel Luft in allen Richtungen.

Tanzen erfordert ständiges Üben. Allein und zusammen. Je besser das gelingt, desto besser wird die Welt. Auch ohne Fort-Schritt.

Ich betone vorsorglich: All das hat mit Hippietum und romantischem Stillstand nichts zu tun. Tanzen gehört zu den anspruchsvollsten Tätigkeiten des Menschen, auch dann, wenn es anfängt, Spaß zu machen.

Wer tanzt, muss sich ständig neu ausrichten auf die Musik, den Raum und die Mit-Tanzenden. Wer tanzt, weiß auch ohne KPI, OKR, MBO und SMART Goals, was zu tun ist.

Es mag eine Weile ungelenk, linkisch und unrund laufen, wie’s halt in den ersten Tanzstunden so ist. Aber es ist eine realistischere Alternative zum linearen Fortschritt, dessen illusionärer Charakter sich immer deutlicher offenbart.

Und viel erfüllender.

Und, wenn alles gut zusammentanzt: atemberaubend schön.

Nachklang  – zum Lostanzen 🙂

Freedom, Jon Batiste
Musicology, Prince
Boogie Shoes, KC & The Sunshine Band

Zu finden in der Playlist von Buddha-in-Business auf Spotify Enjoy!

#TruthBomb #Change

Armin Jäger
Armin Jäger

In diesem Sinn ist Klarheit weniger Krönung als Quelle: Sie schenkt Energie, Zuversicht und Richtung.