Klarheit – nicht in 5 Schritten

Klarheit ist das, was wir uns alle wünschen – und was im Business ständig gefordert wird: Entscheidungen treffen, Orientierung geben, souverän wirken. Doch Klarheit fällt nicht vom Himmel. Sie ist Schwerstarbeit, besonders für sensible Menschen, die viele Facetten sehen und nichts vorschnell verwerfen wollen. In diesem Beitrag zeige ich, warum Klarheit mehr ist als „Durchblick“ – und wie sie Denken, Handeln und Wirkung verändert.

Klarheit ist nicht Eindeutigkeit.

Klarheit ist der Zustand, in dem Wahrnehmung, Denken und Empfinden übereinstimmen. Gereifte Klarheit ist weniger ein logisches Urteil, sondern ein umfassendes Empfinden: Etwas ist zurechtgerückt, etwas stimmt, etwas trägt. In Führung und Selbstführung heißt das: Entscheidungen verlieren ihre lähmende Schwere und setzen Energie frei. Klarheit ist das Gefühl, trotz aller Mehrdeutigkeit einen inneren Kompass zu haben und damit handlungsfähig zu werden.

Wann weiß ich, dass ich „klar“ bin? In einer Entscheidung, in einer Situation, in einem Gespräch? Für mich ist Klarheit ein körperliches Gefühl: leicht, warm, heiter und energiegeladen. Als ob in mir gerade die Sonne aufgeht – ein eindeutiger Impuls, der alle Mehrdeutigkeiten umarmt. Dazu kommt die Freude, einen Sieg errungen oder zumindest einen vorläufigen Endpunkt erreicht zu haben, der mich in kraftvolles Handeln bringt. Ich möchte dann am liebsten tanzen, und innerlich tue ich es auch.

Diese Klarheit ist selten ein Geschenk. Sie will errungen werden. Spontan wirkt sie nur dort, wo lange Vorarbeit – bewusst oder unbewusst – geleistet wurde.

Diese Klarheit ist selten ein Geschenk. Sie ist Schwerstarbeit.

Das dunkle Gesicht der Klarheit

Klarheit wird rundum positiv bewertet, vor allem in Business- und Männerkulturen. „Klare Ansage“, „Klartext“ – das klingt nach Leistungsstärke und Durchsetzungsfähigkeit. Doch auch Alphamännchen, Diktatoren oder bösartige Narzissten sind „klar“. Nur ist es eine Klarheit ohne innere Wahrhaftigkeit, gespeist aus brachialer Härte und Selbstüberschätzung. Sie wirkt im Moment machtvoll, schafft kurz danach aber neues Chaos. Das ist minderwertige Klarheit, sie infiziert die Wirtschaft und Politik wie ein schädliches Virus.

Die Klarheit, von der ich spreche, ist anderer Art: Sie erwächst aus einem ehrlichen Ringen um Stimmigkeit. Das Resultat ist eine Überzeugung, die trägt, weil sie innerlich erprobt und durchlebt ist. Für mich gilt: Klarheit ist nicht das Ende von Komplexität, sondern das Durchdringen derselben, bis ein Moment von Kairos entsteht: Jetzt ist die Zeit, jetzt kann ich handeln!

Ist Klarheit schaffen ein Talent? Dann bin ich gänzlich unbegabt.

Manche Menschen scheinen Klarheit fast mühelos zu finden. Sie haben von Kindheit an ein sicheres Standing in der Welt, eine wohlbalancierte Ratio und eine dosierbare Sensibilität. Bei ihnen spielen diese drei Kräfte fast wie selbstverständlich zusammen.

Ich dagegen hatte ungünstige Ausgangsbedingungen. Der frühe Tod meiner Schwester, die Angst- und Verlustgeschichte meiner (Flüchtlings-)Familie, die verunsichernden Erziehungsbotschaften – das reißt immer noch Flanken auf. So bekomme ich von der Welt oft mehr Input, als ich verarbeiten kann. Es ist, als bekäme ich zehn Bälle gleichzeitig zugeworfen, die ich sofort jonglieren müsste.

Das Ergebnis: innerer Stress statt schneller Klarheiten. Für mich wäre Klarheit gewinnen eine Tortur, hätte ich nicht Wege gefunden, die mich trotzdem ohne langes Rumgeeiere zur Klarheit führen.

Meine drei Wege zur Klarheit

  1. Der transzendente Weg
  2. Gespräche
  3. Schreiben

1. Der transzendente Weg

Stille, nur auf mich selbst bezogene Meditation hilft bei mir nicht. Ich kann jedoch die ganze Komplexitätsknäuel in mir aufzulösen, in dem ich mich aktiv etwas Größerem zuwende. Etwas, das zugleich in mir selbst und über mich hinausweist und überall zu finden ist.

Da ich einen buddhistischen Übungsweg beschritten habe, nenne ich dieses „Größere“ die Buddhaschaft. Andere mögen es Gott nennen, wiederum andere das
„große Ganze“. Meine buddhistische Ausübung, das Chanten, hilft mir, das ganze chaotische innere Material zu transformieren. Manchmal stelle ich mir vor, wie es sich in einem Ozean aufzulöst, manchmal, wie es in einem Feuer aufgeht und Wärme spendet.

Durch den fortwährenden Klang meiner Stimme öffnet sich etwas in mir: Es darf buchstäblich neues Leben in meine Bude kommen. Und ab einem bestimmten Zeitpunkt formt sich etwas, und ich werde glasklar in meiner Überzeugung und in meiner Entscheidung.

Der Zustand der Buddhaschaft, in dem ich dann verweile, wird auch als einer beschrieben, in dem Weisheit, Mut und Mitgefühl in Fülle vorhanden sind. Ich kann dann buchstäblich „auftanken“. Weisheit, Mut und Mitgefühl, das ist die goldene Triade für ein klares Auftreten in der Welt, das tatsächlich Positives für mich und andere bewirkt. Es erinnert mich an das, was William James, der bislang genaueste Kartograf derartiger Erfahrungen, folgendermaßen beschreibt:

„Unter allen Verlagerungen des inneren Gleichgewichts, allen Wechseln des persönlichen Energiezentrums, die ich analysiert habe, ist der Übergang von der Anspannung, der Eigenverantwortung und der Sich-Sorgens zum Gleichmut, zur Hinnahme und zum Frieden der wunderbarste; …“ *

Dies beschreibt James in einem christlichen Kontext. Als Buddhist werfe ich mich nicht passiv in die Hände Gottes, sondern ich wühle mich mit Bestimmtheit zur Buddhaschaft durch. Aber das Klarheits-Erlebnis ist das gleiche. Und John Dewey, der den Unterschied zwischen offizieller Religion und dem Religiösen in uns betont, stellt fest: 

„Jede Aktivität, die um eines idealen Zieles willen gegen alle Widerstände und trotz Androhung persönlicher Verluste einfach deshalb verfolgt wird, weil man in ihr von ihrem allgemeinen und dauernden Wert überzeugt ist, besitzt religiöse Qualität.“ **

Wer dies mit der eigenen Erfahrung abgleicht, dem mag dieser „transzendente Weg“ nicht völlig seltsam erscheinen.

Vielleicht brauchen die „Klarheits-Naturtalente“ diesen Weg nicht. Mir hilft jedoch diese Hinwendung zum Größeren und das aktive Transformieren meines mentalen Overloads jenseits meiner Ego-Zone. Erst dann, nach diesem aktiven Transformationsprozess, kommen die „richtigen“, klaren Gedanken. 

2. Gespräche

Es muss nicht immer gleich transzendent zugehen. Manchmal genügt auch ein gutes menschliches Gegenüber. Menschen, die zuhören können, ohne eigene Belange hineinzumischen, sind selten. Ich habe zum Glück ein paar. Sie stellen manchmal die eine Frage, die alles auf den Punkt bringt. Sparring ist ein zutiefst humanistischer Sport, für den Empfangenden wie für den Gebenden. Im besten Fall dringen beide in die Tiefen ihrer Menschlichkeit mit all ihren Ambitionen, Verstrickungen und Hindernissen.

Coaching kann ebenfalls Klarheit fördern – doch meine Erfahrung ist zwiespältig: Oft hält die dort gefundene Klarheit nicht lange an. Sie kann euphorisch und befreiend wirken, zerbröselt aber oft nach einigen Tagen. Außerdem tickt dabei immer die Uhr, mit einem fetten Stundensatz dahinter. Das stresst bei beschränktem Budget. 

3. Schreiben

Schreiben zwingt mich zur Langsamkeit und Linearität. Auf Papier oder Bildschirm sehe ich meine Gedanken wie Objekte, die ich neu ordnen kann. Zwangsläufig entsteht ein Dialog mit mir selbst, den ich mit Fragen weiter systematisieren kann:

  • Um was geht es Dir eigentlich?
  • Was wäre das beste Ergebnis?
  • Wie kommst Du dahin?
  • Was ist das Schlimmste, das Dir unterwegs passieren kann?

Analog ist hier besser als digital, auf Papier oder Karteikarten stellt sich ein Gefühl von Übersicht, Ruhe und Kontrolle ein.

Welchen Weg ich auch einschlage:

Klarheit ist keine „Technik“

Meiner Erfahrung nach lässt sich Klarheit nicht in „fünf einfachen Schritten“ herstellen, zumindest nicht in Situationen, die tricky und sticky sind. Das Ringen um Klarheit ist ein spiritueller Akt, er vollzieht sich sinnlich: Ich muss mich auf diesen Prozess erst einmal einstimmen, sei es in meiner buddhistischen Ausübung, im Gespräch mit meinen Sparringspartnern oder beim Schreiben. Auf allen drei Wegen muss ich Unsicherheit, Ambiguität und Chaos in Bewegung bringen. Die Lösung kommt dann. Irgendwie. Aber gewiss nicht durch eine wiederholbare, starre „Technik“. Dieser Prozess ist dem kreativen nicht unähnlich. Echte Klarheit hat immer etwas Schöpferisches.

Und zuletzt: Klarheit ist keine Trophäe am Ende des Weges. Sie ist das tägliche Ergebnis eines Prozesses, der Mut, Geduld und Humor verlangt. Sie zeigt sich nicht darin, alles wissen zu wollen, sondern den entscheidenden Moment zu herbeizuführen, in dem Handeln möglich wird. In diesem Sinn ist Klarheit weniger Krönung als Quelle: Sie schenkt Energie, Zuversicht und Richtung.


* William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung – Eine Studie über die menschliche Natur, S. 299
** John Dewey, A Common Faith (in Erfahrung, Erkenntnis und Wert), S. 248/249

Nachklang

Ariadne – Solo Piano and voice, Wim Mertens
I Can See Clearly Now, Holly Cole Trio
Freigeweht, Rainer Brüninghaus

Zu finden in der Playlist von Buddha-in-Business auf Spotify Enjoy!

#ThruthBomb 

Armin Jäger
Armin Jäger

In diesem Sinn ist Klarheit weniger Krönung als Quelle: Sie schenkt Energie, Zuversicht und Richtung.