Fremd-Sein und Ankommen-Wollen

Ob in einer Stadt oder auf einem Stehempfang: Wir sind immer mal wieder Fremde, umgeben von lauter Alteingesessenen. Das ist eine spannende Situation. Wie wir mit ihr umgehen, verrät viel über uns – und beschert uns ganz unterschiedliche Erlebnisse.

Ich lebe in einer Stadt, in der jeden Tag Tausende „neu hier“ sind. Sie fahren die Hochbahn an den Landungsbrücken entlang, verströmen sich am Elbufer oder tappern in den Straßen von Schanze, Ottensen oder HafenCity. Allesamt Menschen, die nach Erlebnis, sprich, Verbindung suchen. Nach Heimisch-Werden für ein paar Stunden oder gar Jahre.

Interessant zu beobachten, wie sie das tun. Grundsätzlich gibt es zwei Arten, die ich mal zugespitzt typisiere:

Der laute Eindruck-Macher

Männlich, irgendwo in den ersten zehn Jahren seines Ruhestands, also immer noch rege und rüstig.  In der Hochbahn sitzt er, meist umringt von drei gleichaltrigen Begleiterinnen, und produziert aus seiner Funktionsweste heraus Witze oder macht einen auf Erklärbär. Dabei will er nicht nur seine drei Begleiterinnen, sondern auch die weitere Umgebung beeindrucken, deshalb höre ich ihn noch mindestens aus  drei Sitzreihen entfernt. Er kennt sich aus, er ist der Checker, er will es seiner Umgebung zeigen: Hallo hier bin ich! Ich habe genug Geld und genug Zeit und vor allem das Recht, mich hier zu amüsieren! Er ist immer ein paar Dezibel drüber, was natürlich allen Einheimischen, die in der Hochbahn nicht Erlebnistour sind, gehörig auf den Senkel geht. Wenn ich diesen Typus genauer in mich aufnehme, sehe ich die Anspannung in seinem hektischen Fingerspiel und das Heischende, Suchende in seinen Augen. Das macht ihn mir nicht unbedingt sympathischer, aber ich erkenne: Er ist äußerst verwundbar. Genau er, der genau das so sehr zu verbergen versucht.

Die leise Eindruck-Anbieterin

Sie fällt mir oft mitten auf dem Gehsteig auf: Eine junge Frau mit Rucksack, innehaltend, den Blick abwechselnd auf das Handy und auf die Umgebung gerichtet, tastet sie sich lautlos vor. Wenn sie aufblickt, umspielt oft ein schüchternes Lächeln ihr Gesicht, ohne Absicht, an niemand bestimmten gerichtet, und es sagt: „Ich bin neu hier, ich orientiere mich gerade. Und ich glaube, ich könnte es schön finden hier.“ Ihre Verlorenheit zeigt sich unmittelbar, oft gemischt mit einer Portion Neugier, beides ein zärtliches Angebot an die neue Umgebung. Wenn ich das Glück habe, einen Blick von ihr zu erhaschen, dann entdecke ich Geduld in ihren Augen und ein starkes Wesen hinter ihrer Verwundbarkeit. Das Richtige wird kommen für sie. Es ist bereits eingeladen.

Zwei Strategien – paradoxe Wirkung

Darum wage ich immer wieder
mal die leise Art des Fremdseins.

Der eine will sich unverwundbar zeigen und wirkt dadurch unsicher (und oft peinlich), die andere zeigt sich offen verwundbar und wirkt dadurch stark (und immer attraktiv).

Diese zwei Verhaltens-Typen treffe ich genauso zuverlässig in den Foyers von Tagungen, Verbandstreffen und anderen Netzwerk-Knüpfereien. Da höre ich die lauten Eindruck-Macher von weitem und entdecke die stillen Eindrucks-Anbieterinnen in den Nischen. Oder die lauten Eindruck-Macherinnen und die stillen Eindrucks-Anbieter. Es hat gendermäßig zwar Schlagseite, aber keineswegs die volle.

Ob nun die leise oder laute Strategie die bessere ist, vermag ich nicht zu sagen. Doch ich mache um die Eindruck-Macher mittlerweile routiniert einen Bogen und wende mich den Eindruck-Anbietern an den Rändern zu. Risiko: Es kann dort sehr langweilig werden. Chance: Meistens entsteht dort zuerst ein improvisiertes Zuhause für zwei Menschen und später ein neuer Hotspot, zu dem sich immer mehr Menschen gesellen. Weil zwei Menschen zuerst, in stiller Stärke, ihre Verwundbarkeit signalisiert haben, einander berührbar geworden sind und eine gemeinsame Wirklichkeit geschaffen haben, die allmählich ihre eigene Attraktivität entwickelt.

Das zu erleben, finde ich magisch. Darum wage ich immer wieder mal die leise Art des Fremdseins.

Nichiren nennt die eigentliche Heimat des Menschen das „Land des ruhigen Lichts“. Das sei kein Ort, schreibt er, sondern der Zustand unseres Herzens. Wahres Ankommen bedeutet in dieser Logik: Es beginnt nicht erst dort, wo wir letztlich heimisch werden. Es beginnt viel früher, nämlich dort, wo wir mitten in der Fremde still genug werden, um mit anderen eine Heimat zu schaffen.

#BuddhaMoments #Mutmacher

Nachklang

European Grasses, Wim Mertens

Stranger, Anna von Hausswolff

Be Kind, Zak Abel

Zu finden in der Playlist von Buddha-in-Business auf Spotify Enjoy!

Armin Jäger
Armin Jäger

In diesem Sinn ist Klarheit weniger Krönung als Quelle: Sie schenkt Energie, Zuversicht und Richtung.