Mittlerer Weg

Ein Grundprinzip des Buddhismus, das Extreme, sich widersprechende Ansichten und Polaritäten transzendiert. Es ist Hegels dialektischem Dreischritt – These, Antithese, Synthese – nicht unähnlich. Mit einem wichtigen Unterschied: Im Buddhismus will das Befolgen des Mittleren Wegs extreme Ansichten von vorneherein vermeiden, während bei Hegel die gegenseitigen Extreme als Prozess durchlaufen werden und die höhere Einheit als Ergebnis entsteht.

Der Mittlere Weg schult den Geist, das Entweder-Oder-Denken zu überwinden und ihn mit einem Sowohl-Als-Auch- oder Weder-Noch-Denken zu erweitern.

In den Naturwissenschaften hat uns vor allem der Welle-Teilchen-Dualismus in der Quantenphysik dieses Denken gelehrt.

Im Buddhismus kommt die Erkenntnis vom Mittleren Weg in verschiedenen Diskursen zum Tragen, die sich im Laufe der Zeit entwickelten:

In den frühen Lehren des Buddhismus bedeutete der Mittlere Weg vor allem die Ablehnung der beiden Extreme der „Begierden-Erfüllung“ und „Selbstkasteiung“. Diese Ablehnung lässt sich direkt auf Shakyamunis Leben zurückführen, der dem extrem hedonistischen Leben als Prinz entsagte, den Palast verließ und viele Jahre ein extrem asketisches Leben führte. Letzteres verwarf er jedoch kurz vor seiner Erleuchtung ebenfalls als nicht zielführend. Fortan predigte er eine Lebensweise zwischen den beiden Extremen, also weder total lustgewinn-orientiert noch total entsagend. Dies ist die erste Bedeutung des Mittleren Weges.

Der buddhistische Gelehrte Nāgārjuna wandte dann das Konzept des Mittleren Weges auf die Betrachtung des Daseins an. Er bezeichnete damit die wahre Natur aller Dinge: Sie würden weder geboren noch sterben und könnten nicht durch eines der beiden Extreme von Existenz oder Nichtexistenz definiert werden. Die wahre Natur aller Phänomene ist Nicht-Substantialität: Nichts existiert absolut, ewig fix und aus sich selbst heraus, sondern alles existiert immer in Beziehung zueinander und zeigt je nach Kontext mal diese, mal jene Eigenschaften.

Tiantai formte daraus später seine Lehre von den Drei Wahrheiten, in der die letztliche Wahrheit des Mittleren Weges besagt, die wahre Natur aller Phänomene sei weder Nichtsubstantialität noch vorübergehende Existenz, sondern weist Eigenschaften von beidem auf.

In allen diesen Bedeutungen wird eine wichtige Disziplin im buddhistischen Denken erkennbar: Ambiguität aushalten können. Die buddhistische Ausübung ist unter anderem ein Training, dualistisches Denken aufzulösen. Das ist schwierig, weil unser Verstand gerne absolute Gewissheit haben möchte und deshalb die Welt gerne in absolute Kategorien einteilt. Das ist aber, laut Buddhismus, eine Illusion, die falsche Sicherheiten schafft und damit unweigerlich eine neue Ursache für Enttäuschung und Leid.

Im praktischen Leben trainieren wir Buddhisten uns darin, das „Recht-Haben-Wollen“ hintanzustellen und stattdessen Lösungen zu finden, die so viele Ansichten wie möglich integrieren, auch gegensätzliche. Das Finden des Mittleren Wegs auf der Alltagsebene ist weit entfernt von einem lauwarmen Kompromiss, sondern ein dynamischer, vielstimmiger und schöpferischer Prozess, der eine höhere Chance für wert-schaffende Lösungen eröffnet als einseitiges Denken und Rechthaben. Dies gilt auch und vor allem für Konflikte, Planungen, Problemlösungen oder fürs Management von Ressourcen.

[vgl. auch Dictionary of Buddhism, S. 405]